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Solidarität und internationale Gemeinschaftsbildung

Beiträge zur Soziologie der internationalen Beziehungen

Erschienen am 11.05.2009, Auflage: 1/2009
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593388755
Sprache: Deutsch
Umfang: 433 S.
Einband: Paperback

Beschreibung

Nationalstaaten markieren gemeinhin die "natürlichen" Grenzen von Solidarität. Im Prozess der Globalisierung verlieren nationale Solidaritätspraktiken jedoch an Bedeutung: die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Binnen- und Außenmoral verschwimmt. Während die einen erwarten, dass sich eine weltumspannende Solidarität entwickelt, argumentieren andere, solidarisches Handeln müsse sich auf eng begrenzte Gruppen beschränken. Die Autoren untersuchen die Konsequenzen dieser Haltungen für eine politische Ordnung jenseits des Nationalstaats.

Autorenportrait

Sebastian Harnisch und Hanns W. Maull sind Professoren für Internationale Beziehungen und Außenpolitik in Heidelberg und Trier. Siegfried Schieder, Dr. phil, ist wiss. Mitarbeiter am SFB 600 'Fremdheit und Armut' der Universität Trier.

Leseprobe

1. Einleitung "Solidarität" zählt zu jenen "buzzwords", die im alltäglichen Sprachgebrauch häufig und gerne verwendet werden. Solidarität wird begrifflich beispielsweise sowohl in persönlichen Beziehungen (Solidarität in der Familie, unter Freunden und in der Nachbarschaft), im binnenstaatlichen Bereich (wohlfahrtsstaatliche Solidarität) als auch auf der überstaatlichen Ebene (europäische Solidarität) gebraucht (vergleiche Wiemeyer 2007: 271). Dennoch wäre es voreilig, hieraus den Schluss zu ziehen, in der Literatur bestünde Klarheit über den Bedeutungsinhalt von Solidarität und mit ihr würden ausschließlich positive Assoziationen geweckt. Denn es existieren ja nicht nur die Solidarität streikender Arbeiter, das Mitleid mit den Armen und Schwachen dieser Welt oder die Solidarität mit dem Staate Israel als Teil der deutschen Staatsräson, sondern auch die Solidarität der Mafia oder einiger radikaler Muslime, die den Kopf eines ihrer Meinung nach gotteslästerlichen Schriftstellers (Salman Rushdie) oder Mohammed-Karikaturisten (Kurt Westergaard) verlangen. Antagonistische Solidaritäten verfolgen dabei kollektive Interessen gegen konkurrierenden Kollektiva, wobei es vor allem um die Abwehr von "Feinden" oder die Selbstbehauptung gegen Widersacher geht. Solidarität ist nicht immer moralisch gut und sozial erwünscht; und wo sie erwünscht ist, gibt es Grenzen ihrer Verträglichkeit, was zu Solidaritätskonflikten führt (Prischung 2003: 190): Die Staatsbürgerinnen und Bürger eines Landes solidarisieren sich gegenüber Arbeitsmigranten, die ihnen angeblich ihre Arbeitsplätze streitig machen; europäische Regierungen solidarisieren sich gegen unilaterales militärisches Vorgehen der USA (beispielweise im Irak 2003), aber sie bringen auch ihre "uneingeschränkte Solidarität" mit Amerika zum Ausdruck, wenn die USA - wie die Ereignisse vom 11. September 2001 gezeigt haben - durch den internationalen Terrorismus herausgefordert werden. Solidarität ist nicht nur ein ambivalentes Phänomen. Im Unterschied zu aversen Gefühlen wie Misstrauen, Feindschaft oder Hass kommt Solidarität in graduellen Abstufungen und Differenzierungen vor. In der Familie oder Verwandtschaft bestehen oft starke solidarische Bande. Es gibt aber auch Bindungen zu den Menschen in der örtlichen Gemeinde oder der Region. Es sind wiederum andere solidarische Verbundenheitsgefühle, die im Nationalstaat (Anderson 1983), in Europa (Mau 2005) oder im globalen Referenzrahmen (Höffe 2002: 413-418) wirksam sind. Letztlich ist es wohl das Schillernde, das Solidarität unleugbar zu einem der "zentralen politischen Fahnenwörter" macht, "mit denen sich die Menschen die Vorgänge der Welt erklären", so Prisching (2003: 190). Umso paradoxer mutet es an, dass die Politik- und Sozialwissenschaft dieser Begrifflichkeit zumindest bis in die jüngste Zeit hinein keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt hat (Stjernø 2005: 19; Radtke 2007: 3). Nicht umsonst ist Solidarität als "Stiefkind [.] der Gesellschaftstheorie" bezeichnet worden (Münkler 2004: 15). Herrscht schon in der Politik- und Sozialwissenschaft insgesamt ein gewisser Vorbehalt gegenüber Solidarität, so verwundert es kaum, dass sich die Teildisziplin der Internationalen Beziehungen (IB) umso schwerer mit der Kategorie der Solidarität tut. Denn zum einen bezieht sich Solidarität gemeinhin auf individuelle Gefühle und moralische Verpflichtung, während die IB-Disziplin sich primär mit kollektiven Akteuren (Staaten, internationalen Organisationen und Interessengruppen) beschäftigt. Zum anderen fehlt der internationalen Ebene eine den Staaten übergeordnete Zentralinstanz, aber auch unterhalb dieser eine gesellschaftliche oder gar gemeinschaftliche Sozialintegration (Waltz 1979). Entsprechend galt die internationale Ebene lange als "kategoriales Gegenstück nationaler Gesellschaften" (Deitelhoff 2006: 11). "Issues of solidarity questions of the self-understanding of the actors concerning the game they are involved in are systematically exluded, since the anarchical structure and shared ideas serve as the major explanans" (Kratochwil 2008: 445). Erst im Prozess der territorialen Entgrenzung und "ungleichzeitigen Denationalisierung" (Zürn 1998) von Ökonomie, Politik und Gesellschaft verlieren nationalstaatliche Grenzen an Bedeutung, so dass die Unterscheidung zwischen Binnen- und Außensolidarität zunehmend porös wird. Einige Autoren sehen deshalb im Aufbau einer postnationalen Gemeinschaft auch eine der dringlichsten Aufgaben der heutigen Weltpolitik (Benhabib 2008). Nun ist die mangelnde Thematisierung von Solidarität in den IB schon deshalb bemerkenswert, weil seit den 1990er Jahren vermehrt moralische und soziologische Ansätze Eingang in die IB-Forschung gefunden haben (vergleiche Kratochwil 2008). Je stärker im Prozess der Globalisierung das "Internationale" und die Gesellschaft sich überschneiden, desto mehr nehmen auch die Bemühungen zu, die Fächer "Internationale Beziehungen" und "Soziologie" füreinander zu öffnen (Fuchs 2007: 1). Während Normen (Finnemore 1996), kollektive Identität (Wendt 1999), Rolle (Holsti 1970; Kirste/Maull 1996), Moral (Lumsdaine 1996; Hasenclever 2001; Hattori 2003; Tannenwald 2007; Etzioni 2008) und Gerechtigkeit (Welch 1993; Nöel/Thérien 1995; Steffek 2004) inzwischen zum Theoriekanon der IB gezählt werden können, kann dies von Solidarität als "Schlüsselbegriff" der Sozialtheorie und des modernen politischen Diskurses nicht behauptet werden (Beckert u.a. 2004b: 9; Stjernø 2005: 1). Deutliches Indiz dafür ist schon das Fehlen des Solidaritätsvokabulars in den Sachregistern führender IB-Handbücher (Reus-Smit/Snidal 2008; Carlsnaes u.a. 2002) oder Forschungsbänden (etwa Hellmann u.a. 2003). Obwohl das Solidaritätskonzept im theoretischen IB-Diskurs allenfalls implizit eine Rolle spielt (Weber 2007: 694), gibt es durchaus theoretische Traditionen, an die eine systematische Beschäftigung mit Solidarität in den internationalen Beziehungen anschlussfähig ist, man denke nur an Karl W. Deutschs vielbeachtete Studien über das Konzept der "Sicherheitsgemeinschaft" (Deutsch u.a. 1969) und dessen konstruktivistische Weiterentwicklung (Adler/Barnett 1998a, Adler 2008). Bezüge gibt es auch zur konstruktivistischen Identitätsforschung (Wendt 1999: 298-308) sowie zur internationalen Sozialisationsforschung (Schimmelfennig u.a. 2006; Thomas 2008). Sowohl das Herzstück von Deutschs Sicherheitsgemeinschaft, der "sense of community", als auch das "Gemeinschaftsethos" in der IB-Sozialisationsliteratur können - vereinfacht ausgedrückt - als ein Bündel von Solidaritätsgefühlen begriffen werden, welche die Mitglieder an die zentralen Symbole einer Gemeinschaft binden (Rittberger/Schimmelfennig 2006b: 25). Darüber hinaus bestehen auch inhaltliche Anknüpfungspunkte zu den Arbeiten der "Englischen Schule" (Dunne 2008; auch Bergman 2007), zum kommunikativen Handeln in den internationalen Beziehungen (Risse 2000; Niesen/Herborth 2007) sowie nicht zuletzt zu der langen Tradition philosophischen Nachdenkens über die Rolle der Ethik in der internationalen Politik (etwa Chwaszcza/Kersting 1998; Weber 2007; Jabri 2007; Coicaud/Wheeler 2008a). Eine systematische Untersuchung und theoretische Verankerung von Solidarität in den IB steht - von wenigen Beiträgen abgesehen (Beckert u.a. 2004a; Olesen 2005a; Magnusson/Stråth 2007; Radtke 2007; Karagiannis 2007a) - jedoch noch weitgehend aus. Der vorliegende Band unternimmt einen ersten Schritt auf diesem Weg und fragt nach der Relevanz von internationaler und transnationaler Solidarität sowohl auf der Ebene handlungsleitender Motive von Staaten und Gesellschaften als auch auf der Ebene von internationalen Institutionen. Ausgangspunkt ist die These, dass Solidarität einen eigenständigen Erklärungswert in den internationalen Beziehungen hat. Sie ist nicht nur eine unhintergehbare und keineswegs nur in residualen Handlungsfeldern Geltung findende sozio-moralische Ressource, sondern sie liegt auch quer zu der in der soz...

Inhalt

Vorwort 7 I Einleitung Zur Theorie der Solidarität und internationalen Gemeinschaft 11 Siegfried Schieder II Solidarität im europäischen und globalen Kontext Europäische Solidarität: Erkundung eines schwierigen Geländes 63 Steffen Mau "Fremde Freunde": Solidarität in der französischen und deutschen Politik gegenüber den MOE- und AKP-Staaten 89 Rachel Folz, Simon Musekamp, Siegfried Schieder Transnationale Solidarität: Mehr Hilfe für entferntes Leid? 115 Katrin Radtke Die Institutionalisierung der Solidarität und der Globalisierung: Der Fall Darfur 137 Thomas Olesen III Internationale Gemeinschaftsbildung Die Konstitutionalisierung der EU: Eine internationale Gemeinschaftsbildung mit transformativem Charakter? 161 Stefan Seidendorf Die Erweiterungspolitik von Sicherheitsgemeinschaften: Die NATOisierung Polens 193 Cornelia Frank Jenseits von Altruismus und Egoismus: Die britische Entwicklungspolitik unter New Labour 221 Christine Wetzel IV Solidarität und internationale Gemeinschaft zwischen Moral, Interesse, Respekt und Recht Die Ambivalenz der Moral: Interessen und Gemeinschaftsgefühl in der französischen Afrikapolitik 257 Klaus Schlichte Politische Schuld, moralische Außenpolitik? Deutschland, Namibia und der lange Schatten der kolonialen Vergangenheit 277 Stefan Engert Respekt, Solidarität und Kooperation in den internationalen Beziehungen 305 Reinhard Wolf Demokratische Solidarität in der Weltgesellschaft - Zur gegenwärtigen Verfassung der globalen Rechtsgemeinschaft 339 Hauke Brunkhorst V Ausblick Solidarität und Gemeinschaftsbildung: Interdisziplinärer Dialog und Synthese 361 Sebastian Harnisch Forschungsfragen und Forschungslücken 375 Hanns W. Maull Abkürzungsverzeichnis 379 Literatur 383 Autorinnen und Autoren 431

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