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Soziologie des Antiamerikanismus

Zur Theorie und Wirkmächtigkeit spätmodernen Unbehagens, Campus Forschung 967

Erschienen am 13.02.2014, Auflage: 1/2014
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593500577
Sprache: Deutsch
Umfang: 222 S.
Format (T/L/B): 1.4 x 21.4 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

InhaltsangabeInhalt Dank11 1.Einleitung13 1.1Gegenstand und Relevanz der Arbeit14 1.2Forschungsstand15 1.3Ziele der Arbeit20 1.4Zum Begriff des Antiamerikanismus21 1.5Inhaltliche Struktur der Arbeit24 2.Die Geschichte des Antiamerikanismus26 2.1Vorgeschichte27 2.2Die zweite Entdeckung Amerikas durch die Romantik28 2.3Die >Amerikanisierung< des Fin de Siècle34 2.4Weimar und Amerika40 2.5Der nationalsozialistische Antiamerikanismus43 2.6Deutscher Antiamerikanismus nach 194546 2.7Der neue Antiamerikanismus51 3.Zur Theorie des Antiamerikanismus54 3.1Antiamerikanismus als Rationalisierung sozialen Wandels58 3.1.1Sozialer Wandel als Naturprozess59 3.1.2Kognitive Dissonanz76 3.1.3Die kognitive Funktion des Antiamerikanismus79 3.2Antiamerikanismus als Projektion verleugneter Selbstanteile85 3.2.1Rationalität und Selbstbeherrschung86 3.2.2Verdrängung und Projektion104 3.2.3Die affektive Funktion des Antiamerikanismus108 3.3Exkurs 1: Zur funktionalen Äquivalenz antiamerikanischer und antisemitischer Einstellungen111 3.4Der Antiamerikanismus der Anderen: Die Bedeutung des sozialen Umfeldes116 3.4.1Geteiltes Wissen117 3.4.2Der strategische Nutzen moralischer Integrität119 3.4.3Soziale Identität119 3.5Faktoren antiamerikanischer Handlungen125 3.6Zusammenführung und Hypothesen131 4.Antiamerikanismus in Deutschland: Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung137 4.1Die Stichprobe138 4.2Operationalisierung, Indexbildung und univariate Ergebnisse141 4.2.1Variablen des Einstellungsmodells141 4.2.2Variablen des Handlungsmodells158 4.3Bivariate Analysen162 4.3.1Bivariate Zusammenhänge im Einstellungsmodell162 4.3.2Bivariate Zusammenhänge im Handlungsmodell169 4.4Multivariate Analysen173 4.4.1Multivariate Zusammenhänge im Einstellungsmodell174 4.4.2Multivariate Zusammenhänge im Handlungsmodell184 4.5Exkurs 2: Zur Permanenz antiamerikanischer Einstellungen - Eine Test-Retest-Studie187 5.Fazit und Diskussion194 5.1Zusammenfassung194 5.2Diskussion200 5.3Schluss203 Tabellenverzeichnis205 Abbildungsverzeichnis207 Literatur208

Autorenportrait

Heiko Beyer ist akademischer Rat auf Zeit an der Bergischen Universität Wuppertal.

Leseprobe

2.1 Vorgeschichte Es mag zunächst widersprüchlich erscheinen, wenn man die Geburt des Antiamerikanismus auf eine Zeit zurückdatiert, zu der die Vereinigten Staaten noch um ihre Unabhängigkeit rangen und weit davon entfernt waren, bedeutenden ökonomischen und politischen Einfluss in Europa zu besitzen. Es ist jedoch genau dieses Paradox, das ein wesentliches Element des Antiamerikanismus offenlegt: Statt um pragmatische Kritik handelt es sich beim Antiamerikanismus um eine Heuristik des Verstehens, die mehr über den Sprecher verrät als über das, wovon er spricht. So waren es denn auch kaum zufällig Denkerinnen, also europäische Philosophen, Gelehrte und Schriftstellerinnen, die sich Mitte des 18. Jahr-hunderts von Amerika abwandten. Philippe Roger (2005: 2ff.), der in sei-ner Geschichte des französischen Antiamerikanismus den Prolog der Amerikaaversion heraus gearbeitet hat, weist darauf hin, dass vor allem in den Zirkeln der Pariser Aufklärung, zu denen unter anderem Voltaire und Raynal gehörten, erstmalig eine vernichtende Einschätzung der Verhältnisse in Amerika formuliert wurde. Die einflussreichsten Autoren dieses frühen Antiamerikanismus waren der große französische Naturalist Comte de Buffon und der Niederländer Cornelius De Pauw, dessen Recherches philosophiques sur les Américains (1774 [1768]) 1799 bereits in der 11. Auflage erschienen (vgl. Roger 2005: 24). Das Leitmotiv von Buffons Gedanken zu Amerika (vgl. Buffon 1766), später aufgegriffen von De Pauw, findet man im Begriff der dégénération. Roger schreibt diesbezüglich: "What America's detractors found in Buffon's writings was thus the conjunction of a climate theory reformulated as strident physiological determinism, coupled with a set of observations that led to the conclusion of a lesser development or degeneration of all living things in America" (Roger 2005: 13). Der frühe Antiamerikanismus war somit wesentlich biologistisch kon-notiert. Die zoologischen und botanischen Anomalien der neuen Biosphä-re wurden unvermittelt auf die Menschen der Neuen Welt übertragen. Amerika wurde von Buffon, der selbst nie die Reise über den Atlantik angetreten hatte, als Ort des Verfalls und der Entartung, Tiere und Menschen wurden als unterentwickelt oder mutiert im Vergleich zu ihren europäischen Artgenossen beschrieben (vgl. ebd.: 12ff.). De Pauw (1774 [1768]), der von Roger (2005: 14) als "America['s] [] Goya" bezeichnet wird, nimmt Buffons Kritik auf und radikalisiert sie, indem er eine Brücke zwischen klimatischen Bedingungen und sozialen Verhältnissen schlägt. Die europäischen Kolonisten seien zu Tieren degeneriert, die sich gegenseitig verschlingen und trotz aller Bestialität gleichsam asexuell und widernatürlich verhalten (vgl. ebd.: 14ff.). In den 1770ern wird dann nach und nach das antiamerikanische Vorurteil sowohl von der Naturgeschichte entkoppelt als auch durch Werke wie Raynals Histoire des deux Indes (2006 [1770]) einem breiteren Rezipientenkreis zugänglich gemacht (vgl. Roger 2005: 22). Letzteres gilt gleichermaßen für die von William Robertson publizierte und noch im Erscheinungsjahr 1777 ins Deutsche übersetzte History of America (1826 [1777]), die unter anderem auch den Deutschen Alexander von Humboldt beeinflusst haben soll (vgl. Roger 2005: 24; vgl. auch Brescius 2012). Größtenteils scheint sich die Vorgeschichte des Antiamerikanismus je-doch in Frankreich abgespielt zu haben. Aber selbst dort war der Antiamerikanismus in diesen frühen Jahren keineswegs gesellschaftlicher Common Sense. Er stellte ein Vorurteil der Gebildeten dar und sollte dies in den beiden folgenden Jahrhunderten wesentlich bleiben. 2.2 Die zweite Entdeckung Amerikas durch die Romantik Während sich der Antiamerikanismus der Naturalisten des 18. Jahrhunderts vordergründig mit der Biosphäre des neuen Kontinents beschäftigte und damit eben auch beiläufig mit Amerikanerinnen, insofern diese Bestandteile derselben waren, ihm aber eine explizite gesellschaftstheoretische Schlagrichtung noch abging (vgl. Diner 2003: 18f.; Gulddal 2011: 19), wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Grundlagen einer später ausformulierten Soziologie des Antiamerikanismus gelegt. Wenn der Naturalismus des 18. Jahrhunderts die Vorgeschichte des Antiamerikanismus darstellt, so war den Romantikerinnen die zweifelhafte Ehre vorbehalten, den modernen Antiamerikanismus zu begründen (vgl. Gulddal 2011). Auch dieser nun stärker gesellschaftstheoretisch ausgerichtete Anti-amerikanismus war keine Erfindung des Pöbels. Es waren vielmehr hauptsächlich die Eliten - Philosophen und Schriftsteller - die feindselige Töne gegenüber den Vereinigten Staaten anschlugen (vgl. Ceasar 2003). Während die USA selbst weder wirtschaftlich noch politisch eine reale Bedrohung für Europa ausmachten und Mitte des 19. Jahrhunderts kaum Einfluss östlich des Atlantiks ausübten, müssen die Ideen des in der amerikanischen Revolution als Sieger hervorgegangenen Liberalismus durchaus eine Gefahr für die alte Aristokratie Europas dargestellt haben. Amerika wird für diese zur Chiffre einer neuen Zeit - der Moderne - die in einer fernen neuen Welt scheinbar bereits Wirklichkeit geworden war (vgl. Diner 2003: 42ff.). Der Antiamerikanismus war damit der Versuch, den drohenden Wandel, der als Damoklesschwert über Europa schwebte, dingfest zu machen, ihm einen Ort zuzuweisen und so eine greifbare Gestalt zu geben. Gewissermaßen zeigt sich hier die Dialektik der populären (und teil-weise naiven) Hoffnung jener Zeit, dass in Amerika alles besser würde. Tatsächlich ist das frühe Amerikabild eher positiv überzeichnet als negativ. Die entsprechenden Texte über den jungen Kontinent sind zuvorderst Utopien, die dann bei den Schriftstellerinnen des Antiamerikanismus zu Dystopien umgeschrieben werden (vgl. Gulddal 2009). Der Hass auf Amerika kann nicht ohne die Bewunderung und die Hoffnung, die es vor allem für libertäre oder ökonomisch benachteiligte Europäerinnen ausgestrahlt haben muss, verstanden werden. Ein beachtlicher Teil der Amerikaschelte dürfte von Heimkehrern stammen, die selbst in der Neuen Welt gescheitert waren und nun ihre partikularen Erfahrungen in verallgemeinernden Schreckensszenarien niederschrieben (zum Beispiel Nikolaus Lenau 1970, zitiert nach Gulddal 2009; vgl. Diner 2003: 44f.). Durch diese Literatur wurde gleichzeitig den Europäern, die zuhause bleiben mussten oder wollten, das Gefühl gegeben, auf der besseren Seite des Atlantiks zu leben. Die historisch frühe projektive Aufladung irrationaler Amerikanophilie liefert gewissermaßen dem Antiamerikanismus bis heute seine Energie und offenbart, was mittlerweile nicht mehr ohne weiteres erkennbar ist: der Hass auf Amerika speist sich aus dem Begehren. Wie wir später sehen werden, ist der Verdrängungs- und Verschiebungsprozess der Projektion in der Tat ein zentraler Mechanismus des Antiamerikanismus sowie eine seiner historischen Konstanten. Doch nicht nur der Mechanismus, sondern auch die Inhalte, das heißt die Stereotypie selbst, haben teilweise überdauert und erscheinen der heu-tigen Leserin vertraut. Gulddal (2009) fasst die Kernelemente der antiamerikanischen Bilder typologisch zusammen. Er nennt: die Motive der Traditions- und Kulturlosigkeit, des Materialismus und der Vulgarität sowie des religiösen Fanatismus und die Verurteilung des amerikanischen politischen Systems. Ich werde mich im Folgenden an dieser Typologie orientieren.